Ich darf eine neue Klientin begleiten. Sie ist zum zweiten Mal in unserem Stall und sehr motiviert. Auf ihrem Rücken trägt sie das ganze unsichtbare Päckchen, welches das Leben für sie gepackt hat: Eine geistige Einschränkung, gepaart mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit.
Gemeinsam putzen wir das Pferd. Ruby ist ein erfahrenes Therapiepferd mit viel Geduld, aber sie zeigt auch klar, wenn sie etwas nicht möchte. Plötzlich atmet Ruby tief durch, senkt den Kopf, schließt die Augen und schmatzt. Deutlich zeigt sie ihr Wohlbefinden.
Ich weise die Klientin darauf hin. „Das tut dem Pferd gut, was Sie tun.“ Sie schaut ungläubig – „Ich?“, fragt sie. Ich nicke und erkläre ihr, woran man bei einem Pferd erkennen kann, dass es entspannt ist und etwas genießt. Plötzlich lacht sie laut auf und jubelt: „Ich habe das gemacht! Ich habe das gemacht!“. Ein bisschen wundere ich mich über den Jubelanfall.
Später wird sie von ihrer Begleiterin abgeholt werden, da sie nicht selbst Auto fahren kann. Viele Dinge kann sie nicht selbst erledigen, die Erwachsene sonst übernehmen. Diese Diskrepanz macht mich nachdenklich. Aber in ihr liegt auch die Erklärung für den Jubelanfall – sie heißt: Selbstwirksamkeit.
Natürlich kann man sagen: Die junge Frau hat sich einfach gefreut – über das Pferd und die Situation. Ich denke, es ist ein größeres Konzept damit verbunden, es ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Was ist Selbstwirksamkeit?
Kurz gesagt: Selbstwirksamkeit ist das zufriedene Gefühl, etwas bewirkt zu haben. Damit geht das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten einher, das Gefühl, Probleme lösen und Hürden nehmen zu können. Langfristig sorgt das Wissen um die Selbstwirksamkeit dafür, dass Ängste und Stressoren, die nicht selten auch zu einer Chronifizierung von Krankheiten führen, abgebaut werden. (Vgl. Pack-Akkaya 2020, S.1.) Mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit sind eng unsere Grundüberzeugungen und Glaubenssätze verbunden, die auf bestimmte Schemata in unseren Köpfen zurückgehen. (Vgl. hierzu auch Schwarzer 2002, S. 35 und Rönnau-Böse 2020, S. 20).
Schemata: Gedankenförmchen und die Negativspirale
Wir alle haben Schemata in unseren Köpfen. Man kann sie als „Gedankenförmchen“ beschreiben. Es sind Grundüberzeugungen, nach denen wir Glaubenssätze bilden, die unser Verhalten beeinflussen. Nach diesen „Gedankenförmchen“ beurteilen wir Situationen und Informationen. Wir tricksen dabei sogar, denn wir passen Informationen und Wahrnehmungen so an, dass sie zu den Förmchen im Kopf passen.
Aus unseren Schemata und Glaubenssätzen entsteht sehr schnell eine Gedankenspirale. Personen, die wenig Selbstwirksamkeit erfahren haben, haben häufig negative Grundüberzeugungen, z.B. „Ich bin unfähig“. Daraus folgt der Glaubenssatz „Ich muss immer mein Bestes geben“. Wegen der negativen Grundüberzeugung geht dieser Glaubenssatz aber mit einer Entmutigung einher: „Ich schaffe das sowieso nicht.“ (Siehe Pack-Akkaya, S. 17).
Um diese negativen Glaubenssätze zu lösen, müssen sie sichtbar gemacht werden und durch Gegenbilder und Gegenerfahrungen zumindest abgeschwächt werden.
Selbstwirksamkeit erfahren – für wen ist das wichtig?
Prinzipiell ist das Erfahren von Selbstwirksamkeit für jeden Menschen wichtig. Es gibt aber Personengruppen, bei denen die Selbstwirksamkeit besonders erfahrbar gemacht werden muss:
1.) Dazu gehören Kinder und Jugendliche ganz besonders. (Vgl. Mathies 2023, S. 37). Sie sind nicht selten Bewertungsmaßstäben von außen ausgesetzt, die sie nicht immer beeinflussen können. Sie stehen vor besonderen Entwicklungsaufgaben, ihr Selbst ist noch im Werden – daher ist es wichtig, dass sie sich ihre Selbstwirksamkeit immer wieder bewusst machen.
2.) Daneben sind Menschen mit chronischen Erkrankungen in diesem Bereich sehr vulnerabel. Um es salopp zu formulieren: Wenn z.B. bei MS der Körper spinnt und man auch bei größter Anstrengung und Willenskraft sein Bein nicht bewegen kann, ist das eine Erfahrung von Verlust der Selbstwirksamkeit.
3.) Menschen mit traumatischen Erfahrungen, z.B. Opfer von Gewalterfahrungen, haben nicht selten das Ausgeliefertsein und einen großen Verlust der Selbstwirksamkeit erfahren.
4.) Ganz allgemein lässt sich sagen, dass Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen häufig eine eingeschränkte Selbstwirksamkeit erfahren. Sie sind in ihrem Alltag so oft auf Hilfe angewiesen, so oft ist die Zeit der Betreuung knapp, dass die Dinge, in denen sie eigentlich Selbstwirksamkeit erfahren können, nicht selten in den Hintergrund treten.
Wie kann man Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen? Und was kann die Reittherapie dazu beitragen?
Hier kann man vor allem vier Punkte nennen:
1.) Durch individuelle Erfolgserlebnisse, bei denen der Erfolg auch tatsächlich der eigenen Handlung zugeschrieben wird.
2.) Durch das Setzen von Nahzielen, die auch erreichbar sind.
3.) Durch den Aufbau von Bewältigungsstrategien bei Stress oder Misserfolg
4.) Durch das Lernen am Modell – wie geht ein anderer mit einer Erfahrung um? (Vgl. Matthies 2023, S. 38.)
Im Rahmen der Reittherapie kann man meines Erachtens alle Punkte bearbeiten. Das Pferd fungiert hier aufgrund seiner Größe und Masse, aber auch aufgrund seiner direkten Ansprache als Verstärker. Ich möchte zwei Beispiele dafür nennen:
1.) Das Putzen und Pflegen des Pferdes:
Stellen Sie sich vor, in ihrem Leben sind Sie darauf angewiesen, von anderen gepflegt zu werden. Sie sind darauf angewiesen, dass andere Menschen Rahmenbedingungen für Sie schaffen, in denen Sie sich wohlfühlen können. Nun stehen Sie vor einem dieser großen schweren Vierbeiner. Das Nahziel heißt: Das Pferd putzen. Sie putzen dieses Tier – das Nahziel ist erreichbar. Sie selbst erreichen dieses Ziel, also ist es ihre Handlung, die zum Erfolg geführt hat. Und nun äußert dieses große Wesen Zeichen von Wohlbefinden. Dann sind Sie plötzlich derjenige, der es schafft, einem anderen Wesen Wohlbefinden zu schenken. Sie sind nicht der abhängige Teil, Sie sind der tätige Teil.
2.) Die Bodenarbeit oder Freiarbeit mit dem Pferd:
Das Prinzip „Wer-bewegt-wen?“ ist wunderbar geeignet, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Pferde arbeiten mit dem Körper und setzen ihn ein, um andere Pferde (oder Menschen) an einen Punkt zu bewegen, der ihnen genehm ist. Wie fühlt es sich wohl für einen Menschen an, der in seinem Leben wenig Selbstwirksamkeit erfahren hat, durch eine Geste, eine Bewegung oder nur einen Atemzug ein so großes Wesen an einen anderen Platz zu schicken?
Ich denke hier immer wieder an einen Jungen aus der Reittherapie, der viel Unsicherheit und Abhängigkeit erfahren hat und gerne in unsicheren Situationen mit Aggression reagierte. Bei einer Runde Freiarbeit gelang es ihm, das Pferd durch eine Geste weg zu schicken. Da rief er plötzlich: „Ich habe das große dicke Pferd bewegt!“
Dieser Satz drückt für mich eines der Schlüsselelemente der Reittherapie aus: Sie hilft, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Es ist Aufgabe des Reittherapeuten, diese Erfahrungen möglich zu machen und den Blick der Klienten für die Pferdesprache zu schärfen. Der Blick auf ein anderes Wesen mit anderer Sprache hilft manchmal, zu erkennen wie wir selbst mit uns sprechen.
Verwendete Literatur:
Matthies, E.V.: Selbstwirksamkeit: Psychosoziale Anpassung im Jugendalter. Zusammenhänge zu sozioökonomischem Status und Selbstwirksamkeit. Masterthesis, Düsseldorf 2023.
Pack-Akkaya, I.: Fibromyalgie und Selbstwirksamkeit. Die Rolle von Glaubenssätzen und persönlichen Lebensumständen, Wiesbaden 2020.
Rönnau-Böse, M. und Fröhlich-Gildhoff, K.: Resilienz und Resilienzförderung über die Lebensspanne, Stuttgart 2020.
Schwarzer, R. und Jerusalem, M.: Das Konzept der Selbstwirksamkeit, in: M. Jerusalem
& D. Hopf (Hrsg.), Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen.
Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 44, 28-53. 2002.
ความคิดเห็น